Buchtipp: „Wir leben nicht mehr im industriellen, sondern im kulturellen Kapitalismus.“

Buchtipp: „Wir leben nicht mehr im industriellen, sondern im kulturellen Kapitalismus.“

Buchtipp: „Wir leben nicht mehr im industriellen, sondern im kulturellen Kapitalismus.“ 1452 1008 SOS - Save our Spectrum

Befinden wir uns in einem Zeitenwandel? Viele Menschen spüren einen Wandel, besonders angesichts der heutigen Möglichkeiten, das Besondere zu erfahren, zu erleben, ja: zu leben. „Wohin wir auch schauen in der Gesellschaft der Gegenwart: Was immer mehr erwartet wird, ist nicht das Allgemeine, sondern das Besondere“, schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch “Die Gesellschaft der Singularitäten – Zum Strukturwandel der Moderne“ (Suhrkamp, 2017, 5. Auflage 2018: 7). „Sowohl für materielle Güter wie für Dienstleistungen gilt, dass an die Stelle der Massenproduktion uniformer Waren jene Ereignisse und Dienstleistungen treten, die nicht für alle gleich oder identisch sind, sondern einzigartig, das heißt singulär sein wollen. So richten sich die Leidenschaften auf Live-Konzerte und Musikfestivals in ihrer Außeralltäglichkeit, auf Sport- und Kunstereignisse […]“.

Die spätmoderne Ökonomie sei mehr und mehr an singulären Dingen, Diensten und Ereignissen ausgerichtet, und die Güter, die sie produzieren, seien zunehmend solche, die nicht mehr rein funktional, sondern auch oder allein kulturell konnotiert sind und affektive Anziehungskraft ausüben. „Wir leben nicht mehr im industriellen, sondern im kulturellen Kapitalismus.“ (Seiten 7f.). Nach Reckwitz wird ein normales Gut zu einem kulturellen Gut, wenn ihm vom Konsumenten ein eigenständiger Wert zugeschrieben wird und es darin seine kulturelle Qualität erlangt (Seite 121). Ein solches Gut kann – gemäß Reckwitz – auch die Form eines Ereignisses haben, etwa eines „Live-Konzerts“. Kulturelle Güter versprechen positive Affizierung („Freude, Spannung, Bereicherung des Selbst, …“), sind also Affektgüter. Neben funktionalem Nutzen oder kulturellem Wert versprechen sie häufig noch etwas Drittes, nämlich soziales Prestige. Live-Konzerten etwa bescheinigt Reckwitz eine ästhetisch-sinnliche Qualität.

„Von außergewöhnlicher Bedeutung im Kulturkapitalismus sind die Ereignisse oder Events“, meint Reckwitz (Seiten 125f.) und hebt künstlerische Events hervor, die mit der Live-Erfahrung des Publikums punkten: „Konzerte und Festivals der populären und klassischen Musik, Theaterfestspiele oder Filmfestspiele mit anwesenden Stars“. Ein kulturelles Gut wird einzigartig dadurch, dass es selten und „in extremis einmalig“ ist, schreibt Reckwitz. Dabei setze die Wertschätzung der Einmaligkeit eines Ereignisses voraus, „dass es als eines wahrgenommen wird, das Eindrücke und Bedeutungen mit besonderer Dichte evoziert.“ (Seite 136) Im Ergebnis sei das, was Hans Ulrich Gumbrecht „eine Ästhetik der Präsenz“ nennt. Reckwitz (Seite 137): „Es erscheint in diesem Moment wertvoll – oder wertlos.“

Deshalb müssen Veranstaltungen jederzeit und überall störungsfrei stattfinden können.

Von Dr. Jochen Zenthöfer, 12. November 2019

Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten – Zum Strukturwandel der Moderne (Suhrkamp, 2017, 5. Auflage 2018), 480 Seiten, 28 Euro.

Print Friendly, PDF & Email